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„Erinnern für die Zukunft“ – Bürgermeisterrede zum Kriegsende

Arnsberg/Niedereimer. „Sie­ben Jahr­zehn­te sind ver­gan­gen: Erin­nern für die Zukunft“ – uner die­ser Über­schrift stand die Rede, die Bür­ger­meis­ter Hans-Josef Vogel am 8. Mai 2015 zum Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges vor 70 Jah­ren anläss­lich der Eröff­nung der Aus­stel­lung: „70 Jah­re Kriegs­en­de – Erin­ne­run­gen an schwe­re Zei­ten in Nie­der­ei­mer“ hielt. Wir ver­öf­fent­li­chen hier die Rede im Wortlaut

I.

Bürgermeister Hans Josef Vogel
Bür­ger­meis­ter Hans Josef Vogel

Sie­ben Jahr­zehn­te sind seit Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­gan­gen, der von Deutsch­land aus­ge­gan­gen und als tota­ler Ver­nich­tungs­krieg betrie­ben wor­den ist.
110 Mil­lio­nen über­wie­gend jun­ge Men­schen stan­den in die­sem Krieg unter Waf­fen. Der Krieg kos­te­te die unvor­stell­ba­re Zahl von 60 Mil­lio­nen Men­schen das Leben. Mehr als 60 Staa­ten waren betrof­fen. An kei­nem Ort in Euro­pa und an kei­ner Fami­lie in Euro­pa ging die­ser Krieg vor­bei. Der Krieg ging auch nicht an unse­rer Stadt und auch nicht an Nie­der­ei­mer vorbei.
Noch immer aber ken­nen wir nicht die genaue Gesamt­zahl der gefal­le­nen und ver­miss­ten Sol­da­ten aus der heu­ti­gen Stadt Arns­berg. Wir müs­sen wohl von einer Zahl von über 1.500 vor allem jün­ge­rer Men­schen aus­ge­hen. Neheim ver­zeich­net 683, Hüs­ten 380 und Nie­der­ei­mer 47 getö­te­te und ver­miss­te Soldaten.
Und die Bom­ben, die Deutsch­land ande­ren Län­dern gebracht hat­te, kehr­ten zurück nach Deutsch­land. Sie gin­gen auch an unse­rer Stadt, an Nie­der­ei­mer nicht vor­bei. Alt-Arns­berg berich­tet von 140 zivi­len Todes­op­fern und 388 zivi­len Ver­letz­ten, unter ihnen 20 Kin­der. In Nie­der­ei­mer töten die Bom­ben am 09. März 1945  24 Men­schen, wie uns der Arbeits­kreis „Dorf­ge­schich­te Nie­der­ei­mer“ berich­tet. Die Möh­ne­ka­ta­stro­phe in der Nacht zum 17. Mai 1943 war bei uns die gewal­tigs­te Ver­nich­tungs­ka­ta­stro­phe. Schwe­re Zer­stö­run­gen haben die Angrif­fe auf den Via­dukt her­vor­ge­ru­fen. Bis zu sei­ner Zer­stö­rung am 19. März 1945 war zum Bei­spiel der Bereich „Tier­gar­ten“, heu­te „Muf­fri­ka“ genannt zu einer Mond­land­schaft zer­stört worden.
Aber alles ist auch nicht im Gerings­ten ver­gleich­bar, mit dem was Nazi-Deutsch­land in den Län­dern Euro­pas getö­tet, ver­nich­tet, zer­stört und an unend­li­chem Leid gebracht hat.
In den Zwei­ten Welt­krieg hat­te Hit­ler auch die sys­te­ma­ti­sche, ab 1942 indus­tri­el­le Ermor­dung der euro­päi­schen Juden ein­ge­bet­tet. Auch vie­le jüdi­sche Bür­ger aus unse­rer heu­ti­gen Stadt wur­den ermordet.
Und ich erin­ne­re an die über 1.000 getö­te­ten Zwangs­ar­bei­te­rin­nen und ‑arbei­ter bei der Möh­ne­ka­ta­stro­phe oder bei den Über­grif­fen bei War­stein und Brei­ten­bruch noch kurz nach dem Krieg. Alles unvor­stell­bar. Die­se Zah­len – sie ver­wei­sen auf den tiefs­ten Grund der Höl­le und die tiefs­te Fins­ter­nis, das Dun­kels­te vom Dunkelen.
Sie­ben Jahr­zehn­te sind seit­dem ver­gan­gen.  Am 8. Mai 1945 wur­de Deutsch­land und die Welt vom men­schen­ver­ach­ten­den Nazi-Deutsch­land befreit. 70 Jah­re nach die­ser Befrei­ung von Welt­krieg und Nazi-Dik­ta­tur hat die Zahl der unmit­tel­ba­ren Zeit­zeu­gen wei­ter abge­nom­men. Sie nimmt wei­ter ab. Es wird also immer wich­ti­ger, dass wir uns ohne per­sön­li­che Zeit­zeu­gen erin­nern müssen.
Erin­nern für die Zukunft bedeu­tet, alles zu tun, was in unse­rer Macht steht, um eine Wie­der­ho­lung die­ser oder einer ähn­li­chen Kata­stro­phe inner­halb der Mensch­heits­fa­mi­lie zu ver­hin­dern. In wel­cher Form und wo immer sie vor­be­rei­tet und began­gen wird – in der klei­nen und in der gro­ßen Welt. Und es fin­den heu­te grau­sa­me Krie­ge statt. Mil­lio­nen sind heu­te auf der Flucht. Das ist die Auf­ga­be, die wir haben – und zwar die, die nach dem Krieg in Deutsch­land gebo­ren wur­den und die, die oder deren Eltern aus ande­ren Län­dern in unser Land gekom­men sind: Alles zu tun …, alles zu tun…
 
II.
Die Leis­tung des Erin­nerns, die der Arbeits­kreis „Dorf­ge­schich­te Nie­der­ei­mer“ und an sei­ner Spit­ze Det­lev Becker mit die­ser Aus­stel­lung und der dazu­ge­hö­ri­gen 220 Sei­ten star­ken Doku­men­ta­ti­on erbracht haben, sind des­halb nicht hoch genug zu bewer­ten. Die Aus­stel­lung: „70 Jah­re Kriegs­en­de – Erin­ne­run­gen an schwe­re Zei­ten in  Nie­der­ei­mer“ ist eine Aus­stel­lung für die Zukunft. Und die 220 Sei­ten star­ke Doku­men­ta­ti­on mit knapp 60 Zeit­zeu­gen­be­rich­ten aus Nie­der­ei­mer ist eine Doku­men­ta­ti­on für die Zukunft.
Sie, sehr geehr­te Damen und Her­ren des Arbeits­krei­ses, haben alles getan, vor zehn Jah­ren und jetzt in die­sem Jahr wie­der, um am Bei­spiel des eige­nen Dor­fes, der eige­nen Lebens­welt, am Bei­spiel Nie­der­ei­mer und sei­ner Geschich­te an das Unsag­ba­re, den Krieg und die Nazi-Dik­ta­tur zu erin­nern. Dafür möch­te ich Ihnen als Bür­ger­meis­ter im Namen unse­rer gan­zen Stadt dan­ken. Was Sie hier geleis­tet haben, ist nicht nur bei­spiel­haft, son­dern ein­ma­lig in unse­rer Stadt und Region.
Nicht nur durch Reden – wie ich es hier und heu­te tue – zu erin­nern, son­dern Erin­ne­rungs­stü­cke und Berich­te von Zeit­zeu­gen müh­sam zu sam­meln, zu bewer­ten, ein­zu­ord­nen und zu einer Aus­stel­lung und Doku­men­ta­ti­on über die eige­ne Dorf­ge­schich­te zusam­men­zu­tra­gen. Das ver­dient unser aller Anerkennung.
Ich möch­te Ihnen, lie­ber Herr Becker – der Sie ja auch die Auf­ga­be des Orts­hei­mat­pfle­gers erfolg­reich aus­üben – für Ihr Enga­ge­ment an der Spit­ze des Arbeits­krei­ses „Dorf­ge­schich­te Nie­der­ei­mer“ herz­lich dan­ken und Ihnen stell­ver­tre­tend für alle, die mit­ge­ar­bei­tet haben, als klei­nes Dan­ke­schön ein Buch über­rei­chen: ein „Anne Frank“-Tagebuch unse­rer Zeit aus Tsche­tsche­ni­en: das Tage­buch der Poli­na Scherebzowa.
 
III.
Sie­ben Jahr­zehn­te sind seit dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­gan­gen. Unser Erin­nern für die Zukunft sucht immer auch nach Erklä­run­gen – gera­de bei solch Unvor­stell­ba­rem. Auch theo­lo­gi­sche Erklä­run­gen oder Nicht­er­klä­run­gen. „Wo war Gott?“. „Wie konn­te er das zulas­sen?“. „Nicht weil Gott nicht woll­te, son­dern weil er nicht konn­te, hat er nicht ein­ge­grif­fen.“, for­mu­lier­te spä­ter Hans Jonas. Ande­re spra­chen von einer „Schuld Got­tes“ und berie­fen sich auf eine dunk­le Stel­le beim Pro­phe­ten Jesa­ja: „Ich schaf­fe Fins­ter­nis und Unheil“ (Jes 45,7).  Fran­zis­kus, der Bischof von Rom stellt neue Fra­gen. Er fragt nach den Men­schen am Ort des Grau­ens. „Adam, wo bist du?“ lässt er Gott fra­gen. „Mensch, wo bist du?“ Der Papst dreht die übli­che Per­spek­ti­ve um. Er lässt Gott die Fra­ge nach der Recht­fer­ti­gung des Men­schen ange­sichts des­sen Unta­ten stel­len. Wo waren die Men­schen? Wo sind wir?
Ich den­ke an unse­re ukrai­ni­schen Nach­barn. Sie haben mit den Polen und Weiß­russ­land am meis­ten unter Nazi-Deutsch­land gelit­ten. Und so führt uns heu­te nicht nur das Erin­nern zusam­men, das Erin­nern für die Zukunft, son­dern auch das Zusam­men­ste­hen ange­sichts der rus­si­schen Aggres­si­on in der Ukrai­ne, ange­sichts der unvor­stell­ba­ren Situa­ti­on in Syri­en, im Irak und in eini­gen afri­ka­ni­schen Ländern.
 
IV.
Heu­te sind wie­der – wie vor 10 Jah­ren – Freun­din­nen und Freun­de unse­rer pol­ni­schen Part­ner­stadt Oles­no in unse­re Stadt gekom­men, um gemein­sam zu geden­ken und zu erinnern. 
Ich begrü­ße ganz, ganz herzlich:
Herrn Hen­ryk Kuch­ar­c­zyk. Er ist Vor­sit­zen­der des Stadt­ra­tes von Olesno.
Ich begrü­ße Frau Gabrie­la Jokiel und Herrn Andrzej Kochań­ski, Mit­glie­der des Rates von Olesno.
Und ich begrü­ße den Lei­ter der Frei­wil­li­gen Feu­er­wehr von Oles­no, Herrn Tade­usz Rutko.
Es ist für uns eine beson­de­re Ehre, dass Sie gekom­men sind – auf dem Hin­ter­grund des­sen, was Deut­sche den Polen im letz­ten Jahr­hun­dert ange­tan haben. Die Men­schen in Polen haben ent­setz­lich gelit­ten unter die­sem Krieg. Hit­ler woll­te die voll­stän­di­ge Ver­nich­tung des pol­ni­schen Staa­tes. Er woll­te die Aus­lö­schung sei­ner füh­ren­den Schicht. Er woll­te die Aus­beu­tung der übri­gen Bevöl­ke­rung. Nahe­zu sechs Mil­lio­nen pol­ni­sche Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sind will­kür­lich erschos­sen oder sys­te­ma­tisch liqui­diert wor­den. Sie ende­ten in Gefäng­nis­zel­len, bei Zwangs­ar­beit, in den Konzentrationslagern.
Und Polen – das möch­te ich heu­te ein­mal her­vor­he­ben – hat wie kei­ne ande­re Gesell­schaft in einem der­ar­ti­gen Umfang und so lan­ge Wider­stand geleis­tet. Die Polen woll­ten ihr Land eigen­stän­dig befrei­en. Und dann folg­te der deut­schen Dik­ta­tur die sowje­ti­sche Herr­schaft. Das heißt: Die pol­ni­sche Gesell­schaft konn­te auch nach 1945 nicht frei, nicht unab­hän­gig und nicht selb­stän­dig ent­schei­den, bis sie selbst mit dem pol­ni­schen Papst und der Soli­dar­nosc die euro­päi­sche Wen­de schaffte. 
Wich­tig waren dabei auch die Ver­söh­nung und Aus­söh­nung, die „Ent­fein­dung“ zwi­schen Deut­schen und Polen.
Heu­te gestal­ten wir gemein­sam Hand in Hand die Zukunft Euro­pas. Und dazu bei­getra­gen haben auch die Städ­te­part­ner­schaf­ten – auch die Städ­te­part­ner­schaft zwi­schen Arns­berg und Oles­no mit ihren Jugend­be­geg­nun­gen und den vie­len Kontakten.
Wer hät­te vor 70 Jah­ren gedacht, dass Polen und Deut­sche aus Oles­no und Arns­berg gemein­sam des Kriegs­en­des und der Befrei­ung von der deut­schen Dik­ta­tur erin­nern? Wer hät­te vor sieb­zig Jah­ren gedacht, dass Polen und Deutsch­land gemein­sam Mit­glie­der einer Euro­päi­schen Uni­on sind? 
Wer hät­te vor 70 Jah­ren gedacht, dass ein Pole mit Unter­stüt­zung Deutsch­lands zum Rats­prä­si­den­ten der Euro­päi­schen Uni­on bestimmt wur­de? Wer hät­te vor sie­ben Jahr­zehn­ten gedacht, dass es kei­ne Grenz­kon­trol­len zwi­schen Polen und Deutsch­land mehr gibt? Wer hät­te das alles für mög­lich gehal­ten vor sieb­zig Jahren?
Heu­te gibt es kei­nen Zwei­fel mehr: Deut­sche und Polen ste­hen bei­ein­an­der und zuein­an­der. Gemein­sam und mit Frank­reich neh­men wir die beson­de­re Ver­ant­wor­tung wahr, die uns zum Bei­spiel aus der rus­si­schen Aggres­si­on in der Ukrai­ne zuge­wach­sen ist. Wir han­deln und enga­gie­ren uns für fried­li­che Lösun­gen. Wie Polen, Deutsch­land und Frank­reich muss auch die Euro­päi­sche Uni­on ange­sichts der neu­en Her­aus­for­de­run­gen zusammenstehen. 
„Denn nur gemein­sam kön­nen wir das demo­kra­ti­sche und fried­li­che Euro­pa der Zukunft bau­en und nur gemein­sam kön­nen wir es ver­tei­di­gen“ (Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck).
Noch ein­mal gro­ßen Dank an Nie­der­ei­mer für die­se Ver­an­stal­tung, die Aus­stel­lung und die Dokumentation.“

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