Meschede/HSK. „Man wird ja bekloppt, wenn man alles beachtet, was in der Welt los ist“, sagte der Stargast des Abends beim Volksbank Dialog. Und auf so einen Einstieg des Politiker Gregor Gysi in einen äußerst unterhaltsamen Abend hatten die rund 600 Gäste in der Stadthalle Meschede nur gewartet. Der Linke-Politiker nahm sie für fast eineinhalb Stunden alle mit auf eine Reise zu den Untiefen der deutschen Politik. Dabei ging Gysi nicht nur mit den politischen Mitbewerbern ins Gericht, sondern listete auch Fehler in den eigenen Reihen auf.
Über 600 Gäste in neuer Mescheder Stadthalle
Aus seiner Vorfreunde auf einen spannenden Abend machte Dr. Florian Müller, Vorstandsmitglied der Volksbank Sauerland, keinen Hehl. Eine in neuem Glanz strahlendes Stadthalle Meschede sei für die Volksbank genau der passenden Veranstaltungsort. Hier wolle man im Rahmen der Dialog-Reihe wieder einen spannenden Impulsvortrag bieten, der mit wichtigen Themen der Zeit zum Nachdenken anregen solle. Dr. Müller betonte, dass es nach einem Vortag zur Hirnforschung nun zu den Themen der Weltpolitik gehen solle. Ganz bewusst sei der unter das Motto „Herausforderung Globalisierung – Chancen und Risiken für unsere Gesellschaft und den Mittelstand in Zeiten von Brexit und Trump“.
Gregor Gysi ein brillanter Redner
Die rund 90 Minuten des Vortags von Dr. Gregor Gysi – soviel Zeit muss sein – vergingen in der Stadthalle wie im Fluge, was sicher auch seinem stakkatoartigen Redestil geschuldet war. Einmal mehr stellte der Redner seine Brillanz in diesem Handwerk unter Beweis. So startete Gysi nur mit einer kurzen Selbst-Vorstellung und beschrieb, warum der gelernte Rinderzüchter diesen Ausbildungsweg gegangen ist. Ja, sein Vater habe ihm dazu geraten, weil es für einen „Cowboy“ überall in der Welt einen Job gebe. Schnell, so Gysi, habe er gemerkt, dass es auch für die Politik hilfreich sei. „Ich kann ausmisten, melken und mit Hornochsen umgehen“, so Gysi. Keine drei Minuten, und er hatte das Publikum eingefangen.
„Jedes Problem der Welt kommt auch zu den Deutschen“
Nur kurz blickte Gregor Gysi über den Teich, zuerst nach Amerika, wo ein Präsident mit offensichtlichem Minderwertigkeitskomplex regiere. Dann auch noch nach England, wo die Erfinder der Demokratie jetzt mit dem Brexit auf dem Weg seien, damit den Pfad der Tugenden zu verlassen. Soviel könne man jedoch gewiss sein, so Gysi: Jedes Problem der Erde komme auch zu den Deutschen. Damit war er schnell bei dem Thema angelangt, dass den Kern seines Vortrages bildete, die Politik in Deutschland. Eine Zäsur machte Gysi in den Landtagswahlen von 2019 fest, die die politische Landschaft verändert hätten. Doch trotz eines Unterschiedes zur Diktatur, bleibe in Deutschland die Lage nach den Wahlen unverändert. „Politiker machen einfach so weiter“, erklärte Gysi, in Hessen und Thüringen zum Beispiel gebe es keine Frist zur Regierungsbildung.
„Zeit der Volksparteien geht zu Ende“
Das große Problem der SPD in der Groko sei, dass sei keine Alternative zur CDU darstelle. Vor Jahrzehnten habe es noch unterschiedliche Gesellschaftsansätze gegeben, die er jetzt vermisse. Damit, so Gysi, gehe auch die Zeit der Volksparteien zu Ende, weil sie keinen echten politischen Wettstreit mehr garantieren könnten. Überhaupt sei die Regierungsarbeit auch immer schwieriger geworden. Längst schon ließen sich die vielfältigen Interessen in Deutschland nicht mehr in nur zwei Parteien abbilden. Bei seiner Partei, den Linken, erkannte er das Schwächeln wegen des Untergangs des Staatssozialismus.
Mehr Bürgerwille
Neben seien allgemeinen Beobachtungen zur Politik wurde Gysi mit seinen Vorschlägen auch ganz konkret. Um dem Willen der Bürger mehr Nachdruck zu verleihen schlug der Politiker vor, das Recht zu drehen: Die Behörden müssten verpflichtet werden, ihre Widersprüche zu den Vorschlägen der Bürger zu formulieren. Wenn nicht, würde der Bürger-Vorschlag Gesetz. Als Nachteil des oftmals propagierten „schlanken Staats“ kritisierte Gysi, dass sich die Ämter in Fragen von Kultur oder Staat aus ihrer Verantwortung ziehen würden. Zudem führe der dazu, dass die dörflichen Strukturen vernachlässigt würden.
Kritik an Rechtspopulismus
Deutlich Kritik äußerte der Linken-Politiker mit Blick auf die rechtspopulistischen Entwicklungen in Deutschland. „Wer Leute in der Nähe der Nazis wählt, der ist auch für die daraus entstehenden Tendenzen verantwortlich“, sagte Gysi und bekam lauten Beifall im Saal. Auch dass das Bundesverfassungsgericht die NPD als Partei wegen ihrer zu geringen Größe nicht verbieten könne, mache ihm sorge. Wenn sie erst eine bestimmte Größe erreicht habe, sei es auch nicht mehr möglich. Die ungleiche Verteilung des Wohlstands machte er am falschen Steuersystem fest. Vor allem der Mittelstand müsse einen Großteil der Kosten für den Staat aufbringen, während die Großen nicht herangezogen würden. „Wir brauchen mehr Gerechtigkeit für die Mitte“, so Gysi. In Deutschland würden nur zehn Prozent der Menschen über 52 Prozent des gesamten Kapitals verfügen.
Schwarze Null, Pflege, Klima
Der Gast der Volksbank Sauerland hatte sich schließlich so richtig in einen „Rausch“ geredet. Er kritisierte das „sexuell-erotische Verhältnis“ der Regierung zur schwarzen Null und forderte eine wirksame Reform in der Pflege. Die müsse so professionalisiert werden, dass nicht mehr die Sekunden zählen dürften. In der Kritik an der Klimapolitik sieht Gysi schon Erfolge. Greta Thunberg habe es geschafft, dass die Jugend von den Politikern einfordert, endlich für sie Politik zu machen. In einer kleinen Diskussionsrunde zum Abschluss kritisierte der Gast, dass die Vorzüge in der DDR von Westdeutschland nicht gewürdigt worden seien. Und er gab seinem Publikum noch Ratschläge für gutes Altern: „Die Alten müssen lernen, die Privilegien ihres Alterns zu genießen und sollten nicht geizig gegen sich selber sein!“