Arnsberg. Der Literatur- und Diskussionsabend „Barrierefreiheit beginnt im Kopf!“ war die bisher aufwändigste Veranstaltung der Arnsberger Grünen. So musste Raul Krauthausen, Internet-Journalist und Buchautor, der mit der Glasknochenkrankheit im Rollstuhl sitzt, vom Hammer Bahnhof per Spezialtaxi abgeholt werden, weil der Arnsberger Bahnhof erst ab Juni barrierefrei ausgebaut wird. Alle, die sich bei der gut besuchten Veranstaltung in der Festhalle zu Wort meldeten, mussten in zwei Mikrofone gleichzeitig sprechen, um auch für hörgeschädigte Anwesende eine vernünftige Akustik zu bieten. Eine ungewohnte Angelegenheit, die anfangs zu einigen schrillen Rückkoppelungen führte, die sich nach anderthalb Stunden aber ganz gut eingespielt hatte.
Für die Grünen-Ratskandidatin Verena Verspohl, die den Abend moderierte, ein schönes Beispiel, wie die Inklusion gelingen kann. Dass dieser Weg zur Inklusion gelingen muss, dass dies aber eine Generation brauchen werde, machte auch Sigrid Beer deutlich, die schulpolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, die als zweiter prominenter Gast in Arnsberg eindringlich dafür warb, sich auf den Weg zu machen, statt Gründe für das Scheitern der Inklusion zu suchen.
„Inklusion ist zunächst teuer und rechnet sich auf Dauer“
Krauthausen las zu Beginn des Abends ein Kapitel aus seinem Buch „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“, das von seiner Teilnahme bei den Bundesjugendspielen handelte, wo er für einen Schlagballwurf von drei Metern Weite eine Urkunde bekam. Ein Ereignis, dass er als sinnlos und peinlich betrachtete und als Zäsur im Verhältnis zu seinen nicht behinderten Klassenkameraden betrachtet. Gleichwohl berichtete er seinen Zuhörern, dass er eine sehr, sehr gute Schulzeit mit vielen schönen Momenten erlebt hatte. Er habe das Glück gehabt, an einer Berliner Modellschule zu sein mit nur 15 Schülern und ständig zwei erwachsenen Pädagogen im Raum.
Inklusion sei zunächst einmal teuer, weil sie kleinere Klassen und mehr Pädagogen erfordere. Auf Dauer aber werde sie sich aber rechnen, weil die derzeitigen Doppelstrukturen mit Sonder- und Förderschulen abgebaut würden. Der Abstand im Leistungsniveau zwischen behinderten und nicht behinderten Schülern werde größer, wenn sie nicht mehr gemeinsam in einer Klasse seien, sagte Krauthausen, und je früher die amtliche Selektion beginne, desto gefährlicher sei dies aus seiner Sicht.
Provokativ sagte er auch, die zweite pädagogische Kraft in seiner Klasse sei keineswegs nur dafür da gewesen, den Behinderten den Sabber abzuwischen, sondern habe alle gefördert und weitergebracht, auch die Nichtbehinderten. „Förderschulen gehören abgeschafft, jetzt und nicht erst morgen,“ forderte Krauthausen und fügte hinzu: „Wir brauchen Gesetze und keine Almosen.“
„Eine gesunde Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Vielfalt“
Raul Krauthausen kritisierte auch, dass derzeit über Inklusion viel zu viel von den sogenannten Experten geredet werde, die alle nicht behindert sind, dass der Begriff Inklusion vielfach wie eine Sau durchs Dorf getrieben werde. Und er beklagte typisch deutsche Sichtweisen. So gelte in Deutschland ein Mensch bereits als gescheitert, sobald er Fehler gemacht habe und gestürzt sei, im angelsächsischen Raum aber erst, wenn er nach dem Sturz nicht wieder aufgestanden sei. Und in Deutschland werde noch viel zu wenig gesehen, dass eine gesunde Gesellschaft eine Gesellschaft der Vielfalt sei. Eine gesunde Gesellschaft sei nicht nur männlich, weiß, blond und heterosexuell.
Sigrid Beer: neues Leistungsverständnis würdigt individuelle Fortschritte
Das Wertschätzen der Vielfalt ist auch für Sigrid Beer wichtig. Von Norwegen bis Süditalien hätten sich die Menschen auf den Weg gemacht. Auch in Deutschland sei es Aufgabe der Gesellschaft, dass die Möglichkeiten, die starke Eltern auch schon in der Vergangenheit für ihre Kinder erkämpft haben, für alle bereit gestellt werden. Jedes Kind müsse die Voraussetzungen haben, das Beste erreichen zu können, was ihm möglich sei. Das sei keine Leistungsfeindlichkeit, sondern ein neues Leistungsverständnis, das die individuellen Fortschritte würdige. Sigrid Beer antwortete auch auf Kritik aus dem Publikum, dass es in den Schulen in NRW nicht schnell genug voran gehe. Das Land werde eine Milliarde Euro in die Hand nehmen, dass sei kein Pappenstiel. Aber es brauche auch Zeit, 180.000 Lehrerinnen und Lehrer zu Schulen.
Martina Müller, Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Landschaftsversammlung, sagte „Wir lehnen uns nicht zurück. Die Grünen sind der Motor der Inklusion und haben schon vor 20 Jahren angefangen.“
Arnsberger Grüne wollen Aktionsplan Inklusion als vernünftige Basis
Sigrid Alberti, Ratskandidatin der Arnsberger Grünen und selbst behindert, forderte, in der Diskussion um die Schulen auch die bereits Erwachsenen nicht zu vergessen und die oft noch fehlende Barrierefreiheit in Beruf, Freizeit und Verkehr. Für Arnsberg wollen die Grünen deshalb mit einem Aktionsplan Inklusion eine vernünftige Basis schaffen, wie fernab allen finanziellen Gezerres eine Umsetzung von Barrierefreiheit im Alltag gelingen kann. Denn es seien oft Kleinigkeiten, die das Alltagsleben erschweren wenn man in irgendeiner Form eingeschränkt ist.
Raul Krauthausen hat, wie er zum viel beklatschten Abschied sagte, auf der Zugfahrt in Richtung Arnsberg über ein neues Buch nachgedacht. Vielleicht werde er es „Wäre ich doch besser Dachdecker geworden!“ nennen.